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Rumänien-Blog


Avantgarde und Courage: die Stadt Temeswar

Temeswar (rumänisch: Timișoara), das historische, kulturelle und ökonomische Zentrum des Banat, war aufgrund wechselvoller Staatszugehörigkeiten vom funktionierenden Miteinander unterschiedlicher Nationalitäten geprägt – und dies über Jahrhunderte. Im Verlauf der rumänischen Geschichte bildete die ethnische Vielfalt wiederholt die Basis erfolgreichen Widerstandes gegen staatliche Gewalt. Das Ende der Diktatur Nicolae Ceaușescus im Jahr 1989 nahm in der streitbaren Stadt seinen Anfang.

Der Blick in die Geschichte Temeswars lässt vermuten, dass die Festung Temeschburg bereits im 10. Jahrhundert errichtet wurde – von Wassergräben umgeben, an der Stelle des heutigen Nationaltheaters und Opernhauses Timișoara. Danach folgten die zu diesen Zeiten üblichen jahrhundertelangen Belagerungen, Eroberungen, Zerstörungen inklusive Wiederaufbau sowie die obligatorischen Wechsel der Machtverhältnisse und Staatszugehörigkeiten. Doch nicht nur menschliche Eroberer, sondern auch Erdbeben und Epidemien setzten der Stadt und ihrer Bevölkerung zu. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts lief es gut für Timișoara, wirtschaftlich und kulturell. Wesentliche Beiträge zum Aufschwung leisteten der Anschluss an das Eisenbahnnetz sowie die Kanalisierung des Flusses Bega. Mit der Pferdestraßenbahn kam 1869 eine progressive Form der Fortbewegung hinzu, welche weltweit zu den ersten zählte. 15 Jahre später gehörte Temeswar erneut zur Avantgarde: Nach Paris, Nürnberg, Steyr und Berlin installierte man als eine der ersten europäischen Städte die elektrische Straßenbeleuchtung.
Vom Ersten Weltkrieg und den folgenden Wirtschaftskrisen erholte sich Timișoara erst in den 1920er bis 30er Jahren. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt zunächst zum Ziel alliierter und nach dem Seitenwechsel Rumäniens deutscher Bombenangriffe. Nachdem sich die kommunistische Herrschaft gegen Ende der 40er Jahre etabliert hatte, begannen sich die Eigentumsverhältnisse massiv zu verändern. Die Industrie wurde verstaatlicht, Handwerk und Dienstleistungssektor wurden als Kooperativen strukturiert. Bereits in den 60er Jahren kam es zu ersten Aufständen aus der Studentenschaft, welche der Staat jedoch schnell mittels Massenverhaftungen niederschlug. In den 1980er Jahren ging es der Bevölkerung des Banat, ebenso wie allen anderen Rumänen, auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene dramatisch schlecht. In Timișoara, der ehemals fortschrittlichen Stadt, brannten 100 Jahre nach der Einführung einer der ersten elektrischen Straßenbeleuchtungen Europas nachts keine Lampen mehr.

Am 14. Dezember begann in Temeswar die Rumänische Revolution. Mit dem Widerstand der reformierten ungarischen Gemeinde in der Elisabethstadt gegen die Zwangsversetzung des Pfarrers László Tőkés und den am nächsten Tag folgenden Demonstrationen und Unruhen, welche der Staat mit einem Massaker beantwortete. Armee und Securitate schossen auf Demonstranten, unter ihnen Kinder. Die genauen Opferzahlen sind bis heute ungeklärt, man geht von 153 Toten in Timișoara aus. Die revolutionären Ereignisse in Temeswar erfassten das gesamte Land und führten schließlich zum gewaltsamen Sturz Ceaușescus. Die Proklamation von Timișoara, in der die Aufständischen am 11. März 1990 ihre politischen Ziele darlegten, gilt als erstes Dokument zur Gründung eines demokratischen Rumänien.

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